Kürzer Takten, pünktlicher ankommen

Züge müssen auch unter ungünstigen Bedingungen stets sicher zum Stehen kommen. Durch geschickte Kombination innovativer Bremstechnologien könnte auf heute noch notwendige Sicherheitsaufschläge verzichtet werden, um so zusätzliche Transportkapazitäten ohne den Bau neuer Infrastruktur zu schaffen.

Ein defektes Signal, nicht funktionierende Weichen, Personen im Gleis – all das können Gründe für verspätete Züge sein. Ein jedoch nur wenig bekannter Grund verbirgt sich im Betriebsablauf: In welchem Abstand Züge aufeinander folgen steht unter klaren Sicherheitsprämissen – sie müssen stets unter denkbar ungünstigsten Randbedingungen innerhalb einer festgelegten Strecke sicher zum Stehen kommen. Dabei entscheiden einerseits Umweltbedingungen wie nasse oder trockene Schienen über die Länge der Bremswege und deren Streuung. Andererseits haben unterschiedliche Raddurchmesser, Toleranzen in der Lasterfassung oder die Reibwerte von Bremsbelag und -scheibe Auswirkungen auf die realisierbaren Brems- und Anhaltewege. Nicht zuletzt verändert sich auch das Verhalten der Bremsausrüstung sowie der Reibpaarungen während des Bremsvorgangs.

Damit sich derartige Zusammenhänge nicht zu potenziell gefährlichen Situationen entwickeln, werden die Bremskurven der Fahrzeuge mit Sicherheitsmargen beaufschlagt sowie der Betrieb an die jeweilige Situation angepasst – zum Beispiel durch Verringerung der Maximalgeschwindigkeit bei schlechten Schienenverhältnissen. Während die „Puffer“ die erreichbare Taktdichte limitieren, führen die Einschränkungen im Betrieb potenziell zu Verspätungen. Bedeutet im Umkehrschluss: Verringert sich die Streuung von Brems- und Anhaltewegen – sprich: werden sie auch bei widrigen Umweltbedingungen reproduzierbarer – ließen sich Margen ohne Abstriche bei der Sicherheit reduzieren und betriebliche Einschränkungen vermeiden. Gerade bei U- und S-Bahnen sowie im dichten asiatischen Hochgeschwindigkeitsverkehr gelten die nicht genutzten Potenziale zur verbesserten Auslastung als sehr hoch.

Kontakt

Carina Smid Marketing Rail

Moosacher Str. 80
80809 München
Deutschland

Tel.: +49 89 3547-182347
carina.smid@knorr-bremse.com

Das Reproducible Braking Distance-Programm der Knorr-Bremse

Mit dem Programm Reproducible Braking Distance (RBD) liefert Knorr-Bremse einen Beitrag zur Hebung dieser Potenziale. Dahinter steckt die funktionale Verknüpfung dreier innovativer Bremstechnologien. Erstens: Die neuartige Verzögerungsregelung (Deceleration Control, DCC). Indem sie in Echtzeit die Differenz zwischen der tatsächlichen Zugverzögerung und dem Sollwert der angeforderten Verzögerung nachregelt, entkoppelt sie während der Bremsung die tatsächliche Verzögerung von den variablen Parametern des Bremssystems. Zweitens: Der verbesserte adaptive Gleitschutz (WheelGrip adapt). Er reduziert die Bremswegverlängerung bei unterschiedlich schlechten Rad-Schiene-Bedingungen, indem er situativ eine für den jeweiligen Zustand optimale Regelstrategie verwendet. Und drittens: Das nun zugweit ausgelegte und situationsangepasste Sandungs- und Kraftschlussmanagement (Adhesion Management, ADM). Es regelt die ausgebrachten Sandmengen am Zug anhand zuvor ermittelter Schienenbedingungen – und damit bedarfsgerecht so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. Dies führt zu einem geringeren Sandverbrauch sowie geringerer Beeinträchtigung der Infrastruktur bei gleichzeitiger Optimierung der Bremswege [Abb. 1].

Belastbar nachgewiesen und ins Regelwerk integriert könnten die mittels RBD möglichen, verlässlicheren und besser reproduzierbaren Verzögerungswerte in den verwendeten Bremskurven und -verzögerungen für ATO sowie für die Zugsicherung (ETCS) berücksichtigt werden. Auf bestehender Infrastruktur wären hierdurch zusätzliche Kapazitäten geschaffen, die Netzbetreiber mit zusätzlichen Zügen „füllen“ oder zum Abbau störungsbedingter Verspätungen „verwenden“ könnten. Zudem wäre der Betrieb unabhängiger von Umwelteinflüssen.

Abb.1: Ein situationsangepasstes Sandungsmanagement regelt zugweit die Sandausbringung.

Aktueller Stand der Entwicklung

Im Jahr 2018 gestartet, ist die Entwicklung der RBD-Funktionalitäten mittlerweile weit fortgeschritten. Zunächst wurde die verringerte Bremswegstreuung im DCC-Modus auf einer Teststrecke quantifiziert. Bei Betriebsbremsungen aus 120km/h verbesserte sich die Standardabweichung von 12,8 Metern (2,3%) auf 1,6 Meter (0,3%). Bei Schnellbremsungen aus gleicher Geschwindigkeit reduzierte sich die Standardabweichung von 16,4 Metern (3,6%) auf 3,3 Meter (0,7%) [1]. Auch den einjährigen Feldtest absolvierte die Funktionalität erfolgreich.

Der neue Gleitschutz WheelGrip Adapt und das Kraftschlussmanagement ADM durchliefen am Knorr-Bremse ATLAS-Rollenprüfstand (Advanced Test Laboratory for Adhesion based Systems) sowie am „advanced TrainLab“ (aTL) der Deutschen Bahn ebenfalls ein umfassendes Versuchsprogramm [Abb. 2]. Dabei zeigte der neue Gleitschutz unter niedrigen Kraftschlussbedingungen (nH, „UIC-Bedingungen“) die gleiche Leistungsfähigkeit wie aktuelle Systeme. Im Bereich der extrem niedrigen Kraftschlussbedingungen (xnH) erzielte er darüber hinaus eine zwischen zehn und 25 Prozent verbesserte Kraftschlussausnutzung und damit höhere Verzögerung. Das Adhesion Management erzielte unter denselben Prüfbedingungen zum Teil erhebliche Bremswegverkürzungen und erhöhte Bremsverzögerungen, die bis an Verzögerungswerte aus der Trockenbremsung heranreichen.

Potentialabschätzung

Eine im Auftrag von Knorr-Bremse durchgeführte Studie von NEXTRAIL und VIA-Con am Beispiel des Hamburger S-Bahnnetzes untermauerte die Größenordnungen einer bereits im Jahr 2019 durchgeführten RBD-Potenzialstudie: RBD kann die technische Zugfolgezeit (tZFZ) [2] um wertvolle Sekunden verkürzen und Pünktlichkeits-einbrüche bei widrigen Umweltbedingungen verhindern. Zudem zeigte sich eine Reduzierung der Verspätungen unter ungünstigen Kraftschlussbedingungen (z.B. Herbstbetrieb) um 57 Prozent. Ein Wert, mit dem ein der trockenen Schiene ähnliches Pünktlichkeitsniveau in greifbare Nähe rückt.

Mit einer anschließenden Sensitivitätsanalyse wurde der RBD-Effekt bei unterschiedlichen Flottenausrüstungsgraden untersucht. Die beispielhaft erstellten Betriebssimulationen ergaben bei einem RBD-Ausrüstungsgrad von 25 Prozent eine Reduktion der Sekundärverspätungen um vier Prozent. Bei einem Ausrüstungsgrad von 50 Prozent lag die Senkung bereits bei zehn Prozent, bei Vollausrüstung gar bei 20 Prozent. Bemerkenswert: Werden vorhandene Reserven im Fahrplan berücksichtigt, stellt sich bereits ab einem Ausrüstungsgrad von etwa 50 Prozent eine mit RBD-Vollausrüstung vergleichbare Betriebsqualität ein.

Dass sich tZFZ durch ETCS und einhergehende Blockverdichtungen signifikant senken lassen, gilt als hinlänglich bekannt. Mit zunehmender Verdichtung ist dieses Potenzial jedoch irgendwann ausgeschöpft. Wird nun zusätzlich RBD eingesetzt, lassen sich selbst vermeintlich ausgereizte tZFZ weiter senken und die nominelle Streckenkapazität um etwa zehn Prozent erhöhen.

Abb. 2: Der Prüfstand ATLAS der Knorr-Bremse in München.

Einordnung in den Gesamtkontext Bahn

Die Optimierung des Bahnbetriebs auch durch verbesserte Ausnutzung der vorhandenen Infrastruktur stellt gewiss eine wichtige Voraussetzung für den „Shift“ von der Straße auf die Schiene dar. Hierzu sind viele Bausteine wie beispielsweise die Einführung von ETCS oder der ATO-Betrieb, die Digitalisierung von Betriebsabläufen oder auch die geschickte Lenkung von Passagierströmen zu betrachten.

Für den größtmöglichen Nutzen gilt es all diese Einflüsse als Gesamtsystem zu betrachten. Dies bedingt die Zusammenarbeit aller Beteiligten – von Verkehrsunternehmen und Infrastrukturbetreibern über Fahrzeugbauer bis hin zu Entwicklern von Signaltechnik und Zulieferern einzelner Fahrzeugsysteme. Ein solch gesamtheitlicher Fokus mündet zweifellos in einer gewaltigen Herausforderung. Doch der Mehrwert für die urbanisierte Welt wäre enorm: Städter, Reisende, Pendler wären spürbar schneller und effizienter von A nach B unterwegs – ökologische wie ökonomische Pluspunkte inklusive.

Autoren: Dr.-Ing. Marcus Fischer, M. Sc. Christopher Lozano

Literatur:

[1] Norman Kreisel, Ulf Friesen, Ralf Furtwängler, Jörg Braeseke, Dariusz Ciesielski. Verzögerungsgeregeltes Fahrzeug ermöglicht ein stabileres Bremsverhalten in allen Geschwindigkeiten. ZEVrail 01/02 2020

[2] tZFZ: Zeitspanne von der Abfahrt des ersten Zuges bis zur Abfahrt des zweiten Zuges gemäß RIL820.

Zurück zur Übersicht: Fachartikel