Reproducible Braking Distance: ATLAS.

Entwicklung und Validierung von Bremssystemen mit dem Rad-Schiene-Prüfstand „ATLAS“.

Die Reproduzierbarkeit von Anhaltewegen bietet Potential für die weitere Verbesserung von Betriebsqualität sowie Nutzungsgrad der Schieneninfrastruktur, welches es durch Innovationen der Bremssteuerung zu heben gilt. Das Knorr-Bremse Konzept der „Reproducible Braking Distance“ (RBD) beruht auf der Integration des Rad-Schiene-Kraftschlusses und der Verzögerung in das geregelte Bremssystem. Auf dem Rad-Schiene-Prüfstand wurde in Machbarkeitstests nachgewiesen, dass auch bei extrem ungünstigen Umweltbedingungen mit diesem Konzept erhebliche Vorteile für die Anhaltewege erzielt werden können, ohne die installierte Abbremsung zu erhöhen. Der Prüfstand hat sich dabei als Werkzeug für Entwicklung und Validierung unter Bedingungen bewährt, die in Feldversuchen aufgrund von Aufwand und Risiken nur schwer realisierbar sind. Dabei werden Tests der Original-Brems- und Laufwerksteile mit einer mathematischen Simulation von Schienenfahrzeugen und mit Datenbanken aus Feldtests kombiniert.

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Integration des Rad-Schiene-Kontakts in die Bremssteuerung

Ausgehend von einer Bremsanforderung und der Information über die Beladung des Fahrzeugs regelt eine konventionelle Steuerung der Druckluftbremse den Bremszylinderdruck am Drehgestell. Die Gleitschutzregelung hält dabei den Radschlupf in den vorgegebenen Grenzen. Die Brems- bzw. Anhaltewege werden jedoch auch von Toleranzen (der Druckregelkreise und Reibwerte) und Störgrößen (Umweltbedingungen wie Witterungseinflüsse und Schienenverschmutzungen) beeinflusst, die nicht in den Regelkreis der Bremssteuerung eingehen. Bei elektrodynamischer Bremsung bestehen prinzipiell die gleichen Problemstellungen.

Eine groß angelegte Simulationsstudie im Rahmen des europäischen Förderprogramms Shift2Rail mit dem Institut für Bahntechnik GmbH mit Sitz in Berlin beschrieb teilweise deutliche Potenziale einer verbesserten Infrastrukturausrüstung bei besser reproduzierbareren Anhaltewegen [1] (RBD). Bei trockenen Schienen ergaben sich folgende Spannen für verkürzte theoretische Zugfolgezeiten: U-Bahn: 9 bis 19%, S-Bahn: 9 bis 16%, Regionalverkehr mit Triebzügen: 1,5 bis 4% und Hochgeschwindigkeitsverkehr: bis zu 20%. Bei nassen Schienen ergaben sich: U-Bahn: 10 bis 13%, S-Bahn: 10 bis 12%, Regionaltriebverkehr mit Triebzügen: 4 bis 7%, Hochgeschwindigkeitsverkehr: bis zu 20%. Die Schwankungen der theoretischen Zugfolgezeiten resultieren aus den unterschiedlichen Betriebs- und Streckenparametern sowie dem Unterschied zwischen Fixed (Level 2) oder Moving Blocks (Level 3) des Zugbeeinflussungssystems ETCS.

Der Ansatz des integrierten Zusammenwirkens einer jeweils neuartigen Verzögerungsregelung (Deceleration Control), Gleitschutz (Wheel Slide Protection, WSP) sowie Kraftschlussbeeinflussung (Adhesion Management) zielt dabei nicht auf eine stärkere Bremsung der Fahrzeuge ab. Stattdessen will er über eine reduzierte Bremswegstreuung den „Emergency Brake Confidence Level“ erhöhen, um so den Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zügen ohne Abstriche bei der Sicherheit verkürzen zu können.

Dem Adhesion Management kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sich ein sehr schlechter (momentan verfügbarer) Rad-Schiene-Kraftschluss insbesondere durch Schienenbremsen durch keine andere Technologie ausreichend verbessern lässt. Für die Entwicklung von Bremssystemen geht damit jedoch eine Erschwernis einher: Geeignete Feldversuche sind durch die nötige Präparierung ganzer Streckenabschnitte aufwändig, riskant oder gar unmöglich.

Umso größer ist bei der Entwicklung und Validierung von „First-time-right“-Prototypen die Bedeutung von Prüfständen wie dem Knorr-Bremse Rad-Schiene-Prüfstand ATLAS (Advanced Test Laboratory for Adhesion based Systems) (Bild 1). Auf ihm sind Geschwindigkeiten bis zu 350 Stundenkilometern unter verschiedensten gut reproduzierbaren Umgebungsbedingungen mit Originalausrüstungen möglich. Entsprechend einem V-förmigen Entwicklungsmodell beginnen die Prüfstandversuche mit Grundsatzversuchen, an die sich – noch losgelöst von konkreter Rechner-Hardware – Machbarkeitsstudien anschließen. Schließlich folgen Versuche mit Mustern von Produkten, um deren ersten Feldversuch bereits mit einem hohen Konfidenzniveau starten zu können.

Zusammenfassung

Die Reproduzierbarkeit von Anhaltewegen bietet Potential für die weitere Verbesserung von Betriebsqualität sowie Nutzungsgrad der Schieneninfrastruktur, welches es durch Innovationen der Bremssteuerung zu heben gilt. Das Knorr-Bremse Konzept der „Reproducible Braking Distance“ (RBD) beruht auf der Integration des Rad-Schiene-Kraftschlusses und der Verzögerung in das geregelte Bremssystem. Auf dem Rad-Schiene-Prüfstand wurde in Machbarkeitstests nachgewiesen, dass auch bei extrem ungünstigen Umweltbedingungen mit diesem Konzept erhebliche Vorteile für die Anhaltewege erzielt werden können, ohne die installierte Abbremsung zu erhöhen. Der Prüfstand hat sich dabei als Werkzeug für Entwicklung und Validierung unter Bedingungen bewährt, die in Feldversuchen aufgrund von Aufwand und Risiken nur schwer realisierbar sind. Dabei werden Tests der Original-Brems- und Laufwerksteile mit einer mathematischen Simulation von Schienenfahrzeugen und mit Datenbanken aus Feldtests kombiniert.

Anwendungsbeispiele und Versuchsbedingungen

Am Anfang von Versuchsserien steht die Gewinnung grundlegender Erkenntnisse, etwa hinsichtlich der Wirkung des Schlupfs und der Kraftschlussbeeinflussung bei unterschiedlichen Verschmutzungen von Rad und Schiene. Weitere Anwendungsbeispiele sind Machbarkeitstests und Potenzialermittlungen von Algorithmen für innovative Verfahren der Bremssteuerung, die vorläufige Validierung technischer Lösungen im Vorfeld der ersten Fahrzeugversuche sowie die Überprüfung von Einstellungen und Anhaltewegen für spezifische Projekte.

Da die Materialeigenschaften von Rad, Schiene und Zwischenschicht nicht skalierbar sind, ist die Originalgröße der Abmessungen und Kräfte für alle Versuchsarten wesentlich. Deshalb werden Original-Bremsgeräte verwendet. Die Bewegungsenergie des Fahrzeuges wird durch einen Antrieb mit 1,4 MW Leistung dargestellt. Die Ähnlichkeit der Ergebnisse zwischen Prüfstands- und Feldversuch wurde durch Gutachten und Berechnungen nachgewiesen und ist immer wieder Gegenstand von Überprüfungen. Als Ergebnisse stehen u.a. Anhalteweg, Radschlupf, Reibwerte, Rad-Schiene-Kraftschluss und Temperaturen zur Verfügung.

Der gesamte Prüfstand befindet sich dabei in einer Klimakammer, in der – unter Laborbedingungen exakt reproduzierbar – Fahrtwind, Regen, Luftfeuchtigkeit sowie Wärme oder Kälte erzeugt werden können. Verunreinigte Schienenoberflächen zur Simulation von Morgentau, Nebel, Sprühregen, Starkregen, Seifenlösung, Öl bis hin zu festgefahrenen Schichten von Herbstlaub generieren zusätzliche Realitätsnähe.

Da die Bremsung eines Fahrzeuges meist vom Zusammenwirken von mindestens vier Radsätzen abhängt, wird der reale Radsatz in die Simulationsrechnung eines kompletten Fahrzeugs oder Zugs integriert (Bild 2). Von den Messwerten der führenden realen Achse geleitet, bezieht die Rechnung außerdem zusätzliche Daten aus Feldversuchen, beispielweise über die Kraftschlussentwicklung von Radsatz zu Radsatz ein. Ein Gleitschutzsystem regelt den Bremszylinderdruck der Radsätze ohne Unterschied, ob diese Hardware am Prüfstand oder virtueller Teil der Simulationsrechnung darstellen.

Bild 1: Ansicht des Rad-Schiene-Prüfstandes mit einem Radsatz mit drei Bremsscheiben
Bild 2: Das Prinzip der Integration von Prüfstand und Simulation

Beispiele für Test-Ergebnisse der Verzögerungsregelung

Anhaltewege von Schienenfahrzeugen ergeben sich rechnerisch durch die zweifache Integration der Verzögerung. Je genauer die Verzögerung geregelt werden kann, desto besser ist der Anhalteweg determiniert. Auch eine zweite Zielgröße der Bremssteuerung, die limitierte Ausnutzung des Kraftschlusses, lässt sich unmittelbar durch die Verzögerungsregelung (DCC) erreichen. Soll der ausgenutzte Rad-Schiene-Kraftschluss zum Beispiel bei 15 % liegen, beträgt die Verzögerung 15 % der Erdbeschleunigung, folglich rund 1,5 m/s2. Die Verzögerungsregelung gleicht nun Abweichungen in den momentanen Reibwerten der Bremsbeläge aus, in gewissen Grenzen auch solche, die aus Aquaplaning, Schnee und Eis resultieren.

Die Gegenüberstellung (Bild 3) einer druckgeregelten und verzögerungsgeregelten Bremsung auf trockenem Gleis zeigt das Prinzip und den Mehrwert der geregelten Verzögerung: Bei der Versuchsfahrt mit konstantem Bremszylinderdruck variiert die Verzögerung mit dem während der Bremsung sich verändernden Belagreibwert. Kurz vor dem Halt ist der Reibwert am größten. Dies führt in der Praxis zu einem Halteruck, der mit Komforteinbußen und erhöhter Blockiergefahr verbunden und daher unerwünscht ist. In Triebzügen versucht die Bremssteuerung oft, den Ruck in der Betriebsbremse „wegzuregeln“. Ein erfahrener Triebfahrzeugführer kann ihn auch durch eine Lösestufe kompensieren.

Bei Bremsung mit geregelter Verzögerung werden die charakteristische Krümmung in der Verzögerungskurve und der Halteruck nivelliert, und der Anhalteweg wird unabhängig von begrenzten Abweichungen der Belagreibwerte.

Für ein Extrembeispiel (Bild 4) aus einem Grundlagenversuch wurde ein Aquaplaning auf den Bremsscheiben provoziert, wie es kurzzeitig bei starkem Regen und Aufwirbelungen unter dem Zug auftreten könnte. Die Verzögerungsregelung detektiert das Aquaplaning ohne Zeitverzug. Durch einen Impuls des Bremszylinderdrucks wird es in Sekundenbruchteilen „weggebremst“. Bei ungeregelter Bremsung können dagegen mehrere Sekunden verlorengehen, ehe das Wasser von den Bremsbelägen verdrängt ist.

Bild 3: Gegenüberstellung einer druckgeregelten (l.) und verzögerungsgeregelten (r.) Bremsung aus einer Geschwindigkeit von 120 km/h am ATLAS-Prüfstand, Bremszylinderdruck in gelb, Verzögerung in blau
Bild 4: Verzögerung (in Prozent vom Sollwert) über dem Anhalteweg (in Prozent vom Sollwert des Anhaltewegs). (Sollwert: schwarz; Ist-Wert bei geregelter Verzögerung: grau; Ist-Wert der Verzögerung bei konstantem Bremszylinderdruck: blau)

Extrem schlechter Kraftschluss – das Problem Herbstlaub

„Normal“ schlechte Adhäsionsbedingungen werden durch die Gleitschutzanlage beherrscht. Dabei gibt es innovative Lösungen, die die Verbesserung des Kraftschlusses durch Fahren in einem optimalen Schlupfbereich beinhalten. Die Praxis kennt jedoch Fälle extrem schlechter Schienenzustände, zum Beispiel durch eine Schicht festgefahrenes Laub (Bild 5) in Verbindung mit einer bestimmten Feuchtigkeit.

Mit Hilfe eines speziellen Verfahrens und einer Apparatur gelang es am Rad-Schiene-Prüfstand diesen Zustand reproduzierbar zu machen. Insbesondere bei Nebel oder leichtem Sprühregen widersteht diese Schicht mehreren Überfahrten, wobei der Rad-Schiene-Kraftschluss – bei nicht ausreichender Sandung – nur 20 % des notwendigen Werts erreicht.

Zwar verhindert das Gleitschutzsystem auch unter diesen Bedingungen das Blockieren der Räder, die Einhaltung bestimmter Anhaltewege ist jedoch durch die reine Physik erschwert. Innovative Gleitschutzsysteme können dabei erkennen, in welchem Bereich des Radschlupfes noch die beste Kraftübertragung erfolgt und so das Maximum des Erreichbaren sichern [2].

Bild 5: Die festgefahrene Laubschicht – in natürlicher Umgebung (links) und reproduziert am Rad-Schiene-Prüfstand (rechts).

Motivation und Ergebnis des Adhesion-Managements

Die bewährte Urform des Adhesion-Managements ist das Sanden durch den Lokführer. Dafür stehen mit Druckluft oder elektromechanisch gut dosierbare Ausrüstungen zur Verfügung. Ein erfahrener und vorausschauender Lokführer kann so bei einer ausreichenden Anzahl vorhandener und betriebsbereiter Sandungsanlagen im Zug gute Ergebnisse erzielen.

Nicht nur für die automatische Fahr- und Bremssteuerung ist es jedoch wünschenswert, die Sandung durch eine bedarfsgerechte und ohne Zeitverzögerung arbeitende Automatik zu steuern, wodurch die Reproduzierbarkeit der Anhaltewege wesentlich gesteigert werden kann: So verliert ein mit 50 m/s (180 km/h) fahrender Zug durch einen Zeitverzug von drei Sekunden beim manuellen Auslösen fast 150 m Anhalteweg. Zudem ist die für den notwendigen Kraftschluss erforderliche Sandmenge bei einer Geschwindigkeit von 50 m/s mindestens fünfmal so groß wie bei 10 m/s. Zu wenig verwendeter Sand kostet Anhalteweg. Zu große Mengen führen zur Bildung isolierender Schichten auf der Schiene, aus denen Störungen der Gleisfreimeldungen resultieren können, sowie unnötiger Verunreinigung des Gleisbetts.

Die Aufzeichnung des Rad-Schiene-Prüfstandes zeigt, wie Automatik diese komplexen Anforderungen erfüllt (Bild 6): Sie bewertet den Kraftschluss aller Radsätze in Echtzeit und löst bei Bedarf in Sekundenbruchteilen eine dem Kraftschlussdefizit sowie der Geschwindigkeit entsprechende Sandung aus.

Bei nicht zugeschalteter Automatik (links in Bild 6) werden alle Radsätze vom Gleitschutzsystem im gewünschten Bereich des Makroschlupfs gehalten. Dazu muss allerdings der Bremszylinderdruck signifikant abgesenkt werden. Folglich ist der geforderte Anhalteweg nicht mehr einzuhalten. Anstelle der in diesem Beispiel projektierten 529 m liegt er nun bei fast zwei Kilometern.

Bei zugeschalteter Automatik (rechts in Bild 6) – der erste von vier Radsätzen wird gesandet – rollen die ersten beiden Radsätze bereits nach wenigen Sekunden ohne Makroschlupf, die nachfolgenden Radsätze stabilisieren sich in einem für sie optimalen Bereich.

Bild 6: Links der Verlauf einer Bremsung eines konventionell ausgerüsteten Fahrzeuges bei extrem schlechten Kraftschluss ohne ausreichende Sandung – ganz anders der Verlauf (rechts) beim Machbarkeitsnachweis eines innovativen Algorithmus mit automatischer Sandungsregelung, Weg in gelb, Geschwindigkeiten in blau (Fahrzeug, Radsatz 1 bis 4)

Weitere Anwendungsgebiete des Rad-Schiene-Prüfstands

Die Optimierung des Rad-Schiene-Kraftschlusses und des Gleitschutzsystems sind naturgemäß die Hauptanwendungsgebiete des Rad-Schiene-Prüfstands. Darüber hinaus gestattet er jedoch eine Vielzahl weiterer Testarten, die für die technologische Weiterentwicklung des Schienenverkehrs gleichfalls große Bedeutung haben. Hierzu gehören beispielsweise der durch die Schienenfahrzeuge verursachte Verkehrslärm, die Interaktion von Bremsklötzen und Rädern, die thermische und mechanische Wechselbeanspruchung des Kontaktpunkts beim Bremsen, das Verhalten von Bremskrafterzeugern bei der Bewegung des Radsatzes im Fahrbetrieb oder die Wirkung von Schienenbremsen und Putzklötzen.

Autoren: Martin Heller, Jörg Koch, Christian Burger, Andreas Festel

Literaturverzeichnis

[1] Englbrecht, Linke, Hohmann, Gremmel. Höhere Transportkapazitäten auf der Schiene: Simulation zeigt Potenziale für optimierte Auslastung bestehender Infrastruktur. ZEVRail, 08/2020

[2] Meyer, Rasel. Höhere Zugtaktung: Neuartiger Gleitschutz für eine verbesserte Auslastung der Schieneninfrastruktur. ZEVRail, 11-12/2020

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ATLAS
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