• Bremssystem mit rotierendem Bauteil und Sensoren.

    Reproducible Braking Distance: Wheel Slide Protection.

  • Stapel von Zeitschriften und einem Tablet-PC.

    Reproducible Braking Distance: Wheel Slide Protection.

Höhere Zugtaktung: Neuartiger Gleitschutz für eine verbesserte Auslastung der Schieneninfrastruktur

Drei Bremstechnologien spielen beim Knorr-Bremse Ansatz einer Reproducible Braking Distance (RBD) integriert zusammen, um Varianz und Streuung von Bremswegen deutlich zu reduzieren: Eine neuartige Verzögerungsregelung, ein zugweit situationsangepasstes Adhäsionsmanagment sowie ein adaptiver Gleitschutz mit optimierter Kraftschlussausnutzung. Letzterer trägt der Problematik Rechnung, dass bei schlechten Schienenzuständen die verfügbaren Maxima der Rad-Schiene Adhäsion in einem Radschlupfbereich liegen können, der von konventionellen Gleitschutzanlagen nicht konsequent ausgenutzt wird. Herzstück des neuen Gleitschutzes ist der Gleitschutzalgorithmus WSPA-3. Er schaltet in einen zusätzlich implementierten alternativen Regelbereich für extrem niedrigen Kraftschluss, sobald darin gegenüber dem Standardregelbereich eine größere Bremskraft erzielt werden kann. Dadurch kann der Algorithmus eine höhere Bremskraftübertragung für Schienenzustände ermöglichen, in denen bislang praktisch keine Bremskraft mehr übertragen wurde.

Kontakt

Carina Smid Marketing Rail

Moosacher Straße 80
80809 München
Deutschland

Tel.: +49 89 3547-182347
carina.smid@knorr-bremse.com

Einleitung - Entscheidende Verbesserung am Gleitschutzsystem

Gleitschutzsysteme haben in Schienenfahrzeugen eine ähnliche Funktion wie Antiblockiersysteme (ABS) in Kraftfahrzeugen: Sie verhindern den Achsstillstand während einer Bremsung, wenn sich die Kraftschlussbedingungen im Rad-Schiene-Kontakt etwa bei Nässe, auf Herbstlaub oder bei mit Luftfeuchtigkeit überzogenen Schienen plötzlich verschlechtern. Unmittelbare Folge derartiger Achsstillstände können Radschäden wie zum Beispiel Flachstellen darstellen. Die weit über den Schutz der Räder hinausgehende Aufgabe von Gleitschutzsystemen besteht jedoch darin, die momentane Adhäsion im Rad-Schiene-Kontakt optimal zu nutzen und dadurch möglichst kurze Bremswege zu realisieren.

Die Auswirkungen verlängerter Bremswege auf das Gesamtsystem Bahn sind umfangreich: Zusammen mit den nötigen Sicherheitspuffern gehen sie mit in die Berechnung des Mindestabstands zweier aufeinanderfolgender Züge ein. Fahrzeuge, die unter allen Umgebungsbedingungen verlässlicher abbremsen, liefern im Umkehrschluss einen Beitrag zur Verkürzung von Zugfolgezeiten – und damit zur effektiveren Nutzung bestehender Schieneninfrastruktur.

Vor diesem Hintergrund verfolgt Knorr-Bremse mit dem Projekt Reproducible Braking Distance (RBD) das Ziel, Varianz und Streuung von Bremswegen deutlich zu reduzieren. Erstmals wirken dabei eine neuartige Verzögerungsregelung, ein zugweites Adhäsionsmanagement sowie ein adaptiver Gleitschutzregler mit optimierter Kraftschlussausnutzung integriert zusammen.

Konventionelle Gleitschutzsysteme sind im Wesentlichen für niedrigen Kraftschluss mit Maximum im sogenannten UIC-Regelbereich oberhalb von zehn Prozent Schlupf (Makroschlupfbereich) optimiert – jenem Bereich, in dem die Radgeschwindigkeiten um eben diesen Prozentsatz unter der Fahrzeuggeschwindigkeit liegen. Eine gezielte Anpassung der Gleitschutzregelung an Adhäsionsverhältnisse mit ausgeprägtem Maximum im Mikroschlupfbereich (unter fünf Prozent) wird von den einschlägigen Normen (UIC 541-05, EN 15595, NR - GM/GN2695) bislang nicht explizit gefordert.

An dieser Stelle setzt der neue Gleitschutzalgorithmus WSPA-3 an: In Situationen mit signifikanten Bremskraftvorteilen im Mikroschlupfbereich wechselt der Regler aus dem Makroschlupfmodus in den für Mikroschlupf zusätzlich implementierten Betriebsmodus Low Adhesion Mode (LADM) (Bild 1). Kehren sich die Bedingungen wieder um, adaptiert der Regler zurück in den Modus für den gängigen Regelbereich von über zehn Prozent Radschlupf. Auf diese Weise ermöglicht der WSPA-3 auf extrem rutschigen Schienen mit Kraftschlusspeak im Mikroschlupf die Übertragung höherer Bremskräfte und übertrifft damit die normativen Anforderungen. Zur Ermittlung des Adhäsionszustands im Rad-Schiene-Kontakt – und damit zur Bestimmung des Wechselzeitpunktes zwischen den Betriebsmodi – verfügt der WSPA-3 über einen Adhäsionsmonitor. Er wertet die Summe der Bremskräfte jedes Radsatzes aus. (Die Anwendung des WSPA-3-Algorithmus setzt die Regelung aller an einem Radsatz wirkenden Bremssysteme durch denselben voraus.)

Zusammenfassung

Drei Bremstechnologien spielen beim Knorr-Bremse Ansatz einer Reproducible Braking Distance (RBD) integriert zusammen, um Varianz und Streuung von Bremswegen deutlich zu reduzieren: Eine neuartige Verzögerungsregelung, ein zugweit situationsangepasstes Adhäsionsmanagment sowie ein adaptiver Gleitschutz mit optimierter Kraftschlussausnutzung. Letzterer trägt der Problematik Rechnung, dass bei schlechten Schienenzuständen die verfügbaren Maxima der Rad-Schiene Adhäsion in einem Radschlupfbereich liegen können, der von konventionellen Gleitschutzanlagen nicht konsequent ausgenutzt wird. Herzstück des neuen Gleitschutzes ist der Gleitschutzalgorithmus WSPA-3. Er schaltet in einen zusätzlich implementierten alternativen Regelbereich für extrem niedrigen Kraftschluss, sobald darin gegenüber dem Standardregelbereich eine größere Bremskraft erzielt werden kann. Dadurch kann der Algorithmus eine höhere Bremskraftübertragung für Schienenzustände ermöglichen, in denen bislang praktisch keine Bremskraft mehr übertragen wurde.

Diagramm zur Haftung und Radschlupf bei Fahrzeugen.Diagramm zur Haftung und Radschlupf bei Fahrzeugen.
Abbildung 1: Vereinfachte Darstellung der Kraftschluss/Schlupf-Funktionen sowie des Wechsels der WSPA-3-Schlupfregelbereiche in Abhängigkeit des Kraftschlussmaximums bei unterschiedlichen Schienenzuständen.

Wirkprinzip des neuen Gleitschutzalgorithmus WSPA-3

Beginnt der Radsatz während einer Bremsung zu gleiten, startet der WSPA-3-Algorithmus mit der Ermittlung der im Mikro- und Makroschlupfbereich realisierbaren Bremskräfte zwischen Rad- und Schiene. Diese Kräfte sind proportional zum verfügbaren Kraftschluss und werden über das System hinweg gemittelt. Die Mittelung stellt sicher, dass der Vergleich der Kraftschlussmaxima von Mikro- und Makroschlupf auf aussagekräftiger Basis erfolgt und nicht durch kurzzeitige Schwankungen oder vereinzelte Wertepeaks im Kraftschluss verfälscht wird.

Die Kraftschlussberechnung erfolgt auf Basis der Bremszylinderdrücke, unter Einbeziehung der Bremskraftwerte weiterer externer Bremssysteme wie beispielsweise der elektrodynamischen Bremse sowie der Radsatzbeschleunigungen und spezifischer Fahrzeugparameter. Die Bremskraftwerte werden über eine Schnittstelle zur Fahrzeugleittechnik eingelesen. Ergibt der Vergleich der Kraftschlusswerte von Mikro- und Makroschlupf einen signifikanten Vorteil für den Mikroschlupfbereich, wechselt der Algorithmus aus dem Makroschlupfmodus in den mikroschlupfoptimierten „Low Adhesion Mode“ (LADM).

Nach dem Wechsel werden zunächst alle Achsen im Mikroschlupf geregelt. Da sich die Kraftschlussverhältnisse zwischen Rad und Schiene sowie die Relation zwischen maximaler Mikro- und Makroschlupfadhäsion rasch ändern können, verifiziert der WSPA-3 den Regelmodus kontinuierlich. Der dafür entwickelte Prüfalgorithmus versetzt stets mindestens einen Radsatz zurück in den Makroschlupf. Dabei sammelt der Adhäsionsmonitor Daten zur Neubewertung der Adhäsionsverhältnisse. Ist die Regelung der Prüfachse im Makroschlupfbereich die vorteilhaftere, verbleibt sie in diesem Modus.

Mit Wiederholung der Adhäsionsprüfung an weiteren Radsätzen können mehrere Achsen zur Makroschlupfregelung zurückkehren. Durch die gemischte Regelung von Achsen im Mikro- und Makroschlupf passt sich die Regelung fortlaufend an die momentanen Adhäsionsverhältnisse an.

Zusätzlich vergleicht der Adhäsionsmonitor im Hintergrund stets die gemittelten Bremskraftwerte aus beiden Schlupfbereichen. Erweisen sich die Bremskräfte der Makroschlupfachsen für die Verzögerung des Fahrzeugs als vorteilhafter, wechselt das System zurück in den Makroschlupfmodus. Die Beobachtung der Bremskräfte setzt sich nach dem Zurückschalten fort. Gegebenenfalls beginnt der Kreislauf von neuem.

Hydraulisches System mit Druckmessgeräten und Ventilen.Hydraulisches System mit Druckmessgeräten und Ventilen.
Abbildung 2: Gleitschutz-Systemprüfstand zur Optimierung von Gleitschutzanlagen

Fahrversuche - Um etwa zehn Prozent verkürzte Bremswege

Vor der Erprobung des WSPA-3 im Fahrversuch wurde der Algorithmus am Gleitschutz-Systemprüfstand (Bild 2) optimiert und validiert. Der Prüfstand entspricht den normativen Vorgaben und umfasst neben dem Gleitschutz-Steuergerät die komplette Pneumatik eines Reisezugwagens inklusive Bremsaktuatoren sowie Drehzahlerfassung mit realen Komponenten. Ein komplexes Simulationsmodell bildet das Fahrzeug und den Rad-Schiene-Kontakt nach. Eine Vielzahl konfigurierbarer Systemzustände mit statischen und dynamischen Kraftschlusskennlinien ermöglicht es, Gleitschutzsysteme bereits vor dem Einsatz im realen Fahrzeug umfangreich zu optimieren und zu testen.

Im Rahmen der UIC-Zulassung des MGS3-Gleitschutzsystems für Reisezugwagen, als dessen Herzstück der WSPA-3-Algorithmus fungiert, wurden Fahrversuche auf unterschiedlich präparierten Schienen durchgeführt. Zusätzlich zu den vorgegebenen Bremsversuchen auf mit Seifenlösung besprühten Schienen erfolgten Bremswegmessungen bei extrem niedrigem Rad-Schiene Kraftschluss. Um die extrem niedrigen Kraftschlusswerte zu erzeugen, wurden die Schienen vor Versuchsbeginn auf einer Länge von ca. 1.000 Metern mit Papierklebeband präpariert und anschließend mit Wasser besprüht.

Die extremen Schienenbedingungen lieferten sodann die Basis für Vergleichsversuche zwischen der adaptiven (WSPA-3) und einer konventionellen Gleitschutzregelung (WSPA-2). Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bremsversuchen erfolgte jeweils die Umstellung von WSPA-3 auf WSPA-2. Die Bremsweg-Ergebniszusammenfassung der Vergleichsversuche (Abbildung 3) demonstriert den Vorteil des neuen adaptiven Regelungskonzepts.

Braking distance graph for in-vehicle testing.Braking distance graph for in-vehicle testing.
Abbildung 3: Gegenüberstellung der Bremswege mit WSPA-3- und WSPA-2-Algorithmus. Der anfängliche Anstieg der Bremswege von Versuch 192 bis Versuch 210 resultiert daraus, dass die Räder Schmierstoffe über den ursprünglich präparierten Schienenabschnitt hinaus transportierten und sich so der Streckenabschnitt mit extrem niedrigem Kraftschluss verlängerte.

Versuchsauswertung und Ausblick

Der Kraftschluss war zu Beginn der Versuchsserie (V192 bis V210) extrem niedrig (<0,015) und die Kraftschluss/Schlupf-Kurve besitzt kein ausgeprägtes Maximum (vgl. Abbildung, Kraftschlusstyp „other“). Folglich sind bei diesen Versuchen die Bremswege bei WSPA-2 und WSPA-3 erwartungsgemäß etwa gleich.

Im weiteren Versuchsverlauf wurde der Kraftschluss nach zwei Vergleichsversuchen mit WSPA-2 und WSPA-3 schrittweise in Richtung einer Kraftschluss/Schlupf-Kurve mit einem Maximum im Mikroschlupf modifiziert (vgl. Abbildung 1, Kraftschlusstyp „leaves“). Die Ergebnisse ab Versuch 210 zeigen deutliche Vorteile des WSPA-3-Algorithmus unter diesen Kraftschlussbedingungen. Er erzielt einen etwa zehn Prozent kürzeren Bremsweg.

Die Mehrfachüberrollungen und geeignete Putzmaßnahmen nach je zwei Vergleichsversuchen erhöhten den Kraftschluss im präparierten Schienenabschnitt im Versuchsverlauf kontinuierlich und veränderten ihn qualitativ. Deshalb verkürzten sich die Bremswege sukzessive. Die Kraftschlussveränderungen bewirkten, dass der Kraftschlusstyp „Wasser“ (vgl. Abbildung 1) gegen Ende der Versuchsserie (ca. V262) mit Maximum im Makroschlupfbereich eingestellt war. Erwartungsgemäß sind hier die Bremswege mit WSPA-2 und WSPA-3 wieder etwa gleich. Im Anschluss an die Versuchsfahrten wies ein mehr als einjähriger Feldversuch in sechs Reisezugwagen die Robustheit des WSPA-3 nach.

Um die Vergleichbarkeit der Adhäsionsverhältnisse zu gewährleisten, fanden die beiden Versuche der Abbildung 4 am identischen Bremspunkt und unmittelbar hintereinander statt. Im Versuch 249 (WSPA-3) ist der Wechsel in den LADM nach dem Einfahren in den präparierten Schienenabschnitt und die damit verbundene Umschaltung der Achsen in den Mikroschlupfbereich deutlich zu erkennen. Im Versuch 250 (WSPA-2) verbleibt das System dagegen bestimmungsgemäß durchgehend im Makroschlupfbereich.

Mittlerweile wird der WSPA-3-Gleitschutzalgorithmus in den Steuergeräten der neuen Bremssteuerungsgeneration von Knorr-Bremse eingesetzt und leistet dort seinen Beitrag zu kurzen Bremswegen unter allen Adhäsionsbedingungen. Zusätzlichen Mehrwert – gerade auch im Hinblick auf führerloses Fahren (ATO) – erzeugt die optimierte Gleitschutzregelung im Kontext des RBD-Ansatzes. Im nächsten Schritt soll in diesem Projekt mit der Berechenbarkeit der Bremswegstreuungen eine weitere Grundlage geschaffen werden, um den Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zügen ohne Abstriche bei der Sicherheit zu verkürzen.

Diagramm mit Geschwindigkeits- und Leistungsdaten über Zeit.Diagramm mit Geschwindigkeits- und Leistungsdaten über Zeit.
Abbildung 4: Gegenüberstellung der Messergebnisse von zwei Vergleichsversuchen (Versuch 249 mit WSPA-3 und Versuch 250 mit WSPA-2) mit Kraftschlusskurven des Typs „Blätter“ im präparierten Streckenabschnitt. Entlang des Bremswegs sind jeweils der Verlauf der Radsatzgeschwindigkeiten und der Fahrzeuggeschwindigkeit sowie der Bremszylinderdrücke und des Cv-Drucks dargestellt. Der mit Papier präparierte Schienenabschnitt beginnt etwa beim Streckenpunkt „250m“.

Autoren: Reinhold Mayer, Thomas Rasel

Download / Druckversion

Gleitschutz
[PDF, 643,4 KB]
Zurück zur Übersicht: Fachartikel