Zug mit Containern auf Schienen, digitale Effekte.

Relaunch in eine neue Epoche

Bis zum Jahr 2030 will die Europäische Union den Anteil des Gütertransports auf der Schiene von derzeit 18 auf 30 Prozent steigern. Die Digitalisierung und Automatisierung der Güterwagen, ausgestattet mit der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK), gelten dafür als der Hebel schlechthin – aber die Herausforderungen für die Branche sind hoch.

Wird heute irgendwo in Europa ein Güterzug zusammengestellt, kommt der Vorgang einem Blick in die Geschichtsbücher gleich: Rangierbegleiter stehen zwischen den Güterwagen, verbinden die Schraubenkupplungen und Bremsleitungen. Auch andere Vorbereitungen wie die obligatorische Bremsprobe erfolgen nach wie vor manuell. Für diese läuft der Rangierbegleiter, jede einzelne Bremse prüfend, auf der einen Seite des Zuges ganz nach hinten und auf der anderen wieder nach vorne. Parallel ist der Vorbereitungsdienst aktiv und kontrolliert Ladeklappen oder steckt Zugschlusstafeln in die Halterungen. Grundsätzlich hat sich seit 130 Jahren an dieser Vorgehensweise nicht viel verändert. Noch immer vergehen deshalb oft Stunden, bis der Güterzug abfahrbereit ist.

Kontakt

Carina Smid Marketing Rail

Moosacher Straße 80
80809 München
Deutschland

Tel.: +49 89 3547-182347
carina.smid@knorr-bremse.com

Zu langsam, zu träge, zu kompliziert: Warum ein Relaunch des Gütertransports auf der Schiene unabdingbar ist

Für die Zukunft des Schienengüterverkehrs verfolgt die Europäische Union (EU) ambitionierte Ziele. Bis zum Jahr 2030 will sie den Anteil des Gütertransports auf der Schiene von derzeit 18 auf dann 30 Prozent steigern [Abb. 1]. Kein Wunder, dass die „EU“ dem Ausbau eine derart große Bedeutung beimisst: Pro Tonnenkilometer stößt ein Güterzug nur etwa 17 Gramm CO2 aus, beim Lkw sind es rund 111 Gramm [1]. Kein anderes Verkehrsmittel neben der Schiene ist in der Lage, über regenerativ erzeugten Strom derart schnell einen 100-Prozent-Anteil an erneuerbaren Energien zu erreichen.

Doch mit dem Schienengüterverkehr von heute wird das 30-Prozent-Ziel unerreichbar bleiben. Die zahlreichen manuellen Zugvorbereitungs- und Betriebsprozesse führen dazu, dass der Güterverkehr auf der Schiene kaum wettbewerbsfähig gegenüber der Straße ist. Insbesondere der Einzelwagenverkehr mit seinem hohen Zeitaufwand beim Zusammenstellen von Güterzügen entspricht nicht mehr den Anforderungen des 21. Jahrhunderts an flexible Transportketten. Um mithalten zu können, braucht der Gütertransport auf der Schiene einen Relaunch in Form einer umfassenden Digitalisierung und Automatisierung.

Diagramm zur Erhöhung des SchienenverkehrsanteilsDiagramm zur Erhöhung des Schienenverkehrsanteils
Abb. 1: Ein Diagramm zur Verteilung des Gütertransports heute und in Zukunft.

Für intelligente und automatisierte Prozesse braucht es intelligente und automatisierte Fahrzeuge – die DAK als zentraler Enabler

Diese Wende ist mit dem Digital Freight Train – kurz: DFT – möglich. Angefangen beim einzelnen Güterwagen – etwa 500.000 sind derzeit in Europa länderübergreifend im Einsatz – sollen automatisierte Prozesse und digitale Lösungen Transportkapazitäten, Effizienz und Verfügbarkeiten steigern. Am Ende stünde ein intelligenter, intermodaler Flottenbetrieb, indem sich die einzelnen Transportaufträge wie von selbst den schnellsten Weg zum Ziel suchen. Aber erst intelligente und automatisierungsfähige Fahrzeuge (Güterwagen & Lokomotiven) ermöglichen intelligente und automatisierte Prozesse vom einzelnen Güterwagen bis zur großen Flotte.

Für den intelligenten und automatisierungsfähigen Wagen wiederum ist eine Digitale Automatische Kupplung (DAK) nötig. Im Passagierverkehr längst Standard soll sie, erstens, durch die automatisierte Kupplung der mechanischen und pneumatischen Verbindungen zwischen den Wagen (sowie der Lokomotive) den zeitaufwendigen Prozess des manuellen Kuppelns vereinfachen und zweitens, die elektronische Energieversorgung aus der Lokomotive und eine Netzwerkverbindung entlang des gesamten Zugverbands sowie in die Cloud des Bahnbetreibers herstellen. Ausgestattet mit „elektronischer Intelligenz“ in Form von Steuerungen, Sensorik und Aktuatorik fungiert die Kupplung als zentraler Enabler für praktisch sämtliche zukünftige Digitalisierungs- und Automatisierungsfunktionalitäten im Schienengüterverkehr.

Die augenscheinlich größten Veränderungen betreffen die eingangs genannten manuellen Zugvorbereitungsprozesse: Die automatisierte Bremsprobe soll enorme Effizienzen im Rangierbetrieb heben, indem sie das zeitaufwendige Ablaufen des Zugverbands obsolet macht. Eine Fernsteuerung der Kupplung soll, der Name sagt es, auch das ferngesteuerte Entkuppeln eines Zugverbands ermöglichen. Auch die Ansteuerung der Feststellbremse, die das ungewollte Davonrollen verhindert, soll über die DAK ermöglicht werden. Ein vollständig ausgerüsteter DFT würde zudem Zugtaufe und Zugvollständigkeitsüberwachung zu automatisierten und unkompliziert realisierbaren Features machen [Abb. 2].

Aber auch jenseits derartiger Funktionalitäten steckt Potenzial in der DAK: Vorausgesetzt, der betriebliche Nutzen rechtfertigt den zusätzlichen Aufwand, könnte der DFT auch den Weg zur Einführung einer elektropneumatischen Bremsenfunktion auch im Güterverkehr ermöglichen. Deren Grundvoraussetzung in Form einer elektronischen Infrastruktur wäre mit dem DFT schließlich an Bord. Für die Wirtschaftlichkeitsrechnungen eines digitalisierten Schienengüterverkehrs könnte die DAK auch an weiterer Stelle relevant werden – sie könnte darüber hinaus auch als Plattform für Condition Based Maintenance-Anwendungen dienen.

Zug mit cloudbasierten Technologien und Komponentenillustrationen.Zug mit cloudbasierten Technologien und Komponentenillustrationen.
Abb. 2: Die digitalen Funktionalitäten & Komponenten des DFT.

Einheitlicher Standard für den gesamten europäischen Schienenverkehrsmarkt

Gerade vor dem Hintergrund der notwendigen Interoperabilität innerhalb Europas darf der attraktive Mehrwert eines digitalen Güterzugs nicht über die Komplexität von Technologieentwicklung und Markteinführung hinwegtäuschen. Ähnlich den UIC-Regularien und EN-Normen zu pneumatischen Bremssystemen ist ein entsprechendes Regelwerk bereits zum Betriebsstart eines DFT unerlässlich. Schließlich darf die langfristige Schnittstellenkompatibilität technische Weiterentwicklungen des Gesamtsystems nicht behindern.

Zwar läuft im Rahmen des EU-Technologieförderungsprogramms „Europe’s Rail Joint Undertaking“ (ERJU) die Abstimmung zwischen Fahrzeugherstellern, Bahnbetreibern und der Zuliefererindustrie über möglichst generische Sicherheits- und Verfügbarkeitsziele, für die Zulassung von DFT-Güterwagen und -Lokomotiven ist jedoch der konkrete Bezug der Sicherheitsnachweise auf die Einzelfahrzeuge nötig. Außerdem gilt es, diese neue Technologie ins heutige Instandhaltungskonzept zu integrieren. Die Instandhaltung oder Reparatur jedes DFT-Fahrzeugs muss letztlich grundsätzlich in jeder europäischen Werkstatt möglich sein.

Wie sehr mit Blick auf das Eingangs genannte 2030-Ziel die Zeit drängt, zeigt der Rückblick auf die jüngere Vergangenheit: Obwohl die Standardisierung allein der mechanischen DAK-Schnittstellen vergleichsweise unkompliziert erscheint, war die europäische Schienenfahrzeugbranche damit über Jahre beschäftigt.

Autor: Dipl.-Ing. (FH) Steffen Jass

Literatur:

[1] Höhe der Treibhausgas-Emissionen im deutschen Güterverkehr nach Verkehrsträgern im Jahr 2019. Statista

Zurück zur Übersicht: Fachartikel